Wieviel Maximalbelastung erträgt mein
praktisch untrainierter Körper im fortgeschrittenen Alter? Die ungeschminkte Antwort
auf diese Frage sollte ich am Ägeriseelauf 2013 in Form einer bitteren
Schmerz-Reue-Schorle serviert bekommen. Als gelegentlicher Schlechtes-Gewissen-Seepromenaden-Jogger
hatte ich mir Grosses vorgenommen. Ich wollte so lange wie nur möglich an Lauf-Crack
Viktor Röthlin dranbleiben. Herzfrequenzmässig ein reines Selbstmordkommando,
wie sich bald herausstellen sollte.
Aus einer Autopannensituation heraus
war ich gezwungen, mit dem Auto einer Freundin (einem japanischen Offroader mit
Aargauer Kennzeichen) von Zürich nach Oberägeri zu fahren. Für einen
waschechten Zürcher schon mal eine prima Gelegenheit, sich in Demut zu üben. Endlich
im gewitterhaften Oberägeri angekommen, begrüsste mich OK-Präsident Bruno
Schuler wie einen alten Freund und hiess mich herzlich willkommen. Offensichtlich
war ich zu Gast bei Freunden, denn auch bei der Startnummernausgabe erkannten
mich die netten Mitarbeiterinnen als Kolumnist von „FIT for LIFE“ und wünschten
mir einen guten Lauf. Ha! Wenn die wüssten...! Erwartungsvoll rief ich nun
Thomas Mullis, den Geschäftspartner von Viktor Röthlin, auf seinem Handy an, um
mich für den Stunt bereit zu melden. Etwas unbeholfen schnallte ich einen
Polar-Pulsmesser, den ich von der Redaktion geliehen bekam, um meinen Oberkörper.
Der gefühlte „Sport-BH“ sass etwas zu eng, doch Thomas Mullis, der inzwischen
herangeeilt war, half mir das Ding etwas zu lockern. Nach diesem schon fast
intimen Moment war das Eis zwischen uns im Nu gebrochen. Tratschend wie alte
Waschweiber bewegten wir uns zum Startbereich, der zu diesem Zeitpunkt noch
leer war. Thomas meinte, dass er mich kurz vor dem Startschuss in die erste
Reihe schmuggeln werde, wo das „Duell“ zwischen mir und Viktor Röthlin
stattfinden sollte. „Was zur Hölle mache ich hier eigentlich?“, schoss es aus
mir heraus. Thomas lachte: „Du wirst deinem Körper einen gehörigen Schock
verpassen. Lauf dich besser noch etwas ein.“ Aber hey, ich war um jeden Meter
froh, den ich nicht laufen musste, also strich ich das Warm-up.
In der Garderobe direkt am See lernte
ich endlich den Mann kennen, der mich bald wie eine heisse Kartoffel fallen
lassen sollte: Viktor Röthlin, seines Zeichens Laufgott der Nation. Er
begrüsste mich mit einem süffisanten Lächeln. Offensichtlich war er seiner
Sache ziemlich sicher. Warum bloss? Vielleicht weil er für die 14 Kilometer nur
halb soviel Zeit braucht wie ich. Darum. „Du bist also derjenige, der mich hier
besiegen will?“, fragte er mit gehörig Schalk auf der Oberlippe. „Eher derjenige,
der sich hier neben dir eine ziemliche Erkältung holt“, entgegnete ich
kleinstapelnd. Wir mussten lachen. Draussen vor dem See schoss Thomas mit
meinem iPhone noch schnell ein
Guckt-mal-ich-hab-einen-Promi-getroffen-Facebook-Pic und dann machten wir uns
auf zur Startlinie. Da war schon alles voll mit Läufern, doch wir schmuggelten
uns direkt von vorne in die erste Reihe. Der Speaker vor Ort streckte mir sein
Mikro ins Gesicht und fragte, was denn heute so mein Ziel sei. Ziemlich
verdattert stammelte ich vor versammelter Menge, dass ich einfach versuche an
Viktor Röthlin dranzubleiben. Ha ha, Pointentusch.
Plötzlich kam Hektik auf und Thomas
drängte mich hinter die Startlinie. Heroisch hechtete er vor Vik und mich und machte,
ganz selbstlos, mit meinem iPhone ein Erinnerungs-Foto dieses
geschichtsträchtigen Moments. Ein Bild, das ich mal meinen Enkelkindern zeigen
werde. Ich, mit gefühlten 3000 Topläufern hinter mir, wie wir alle im selben
Moment auf unsere Pulsmesser schauen und „Start“ drücken. Und da kam er auch
schon, der Startschuss. Ich rannte los als hätte ich Schiesspulver in der
Poritze. Schräg links vor mir lief Vik. Die Meute schob mich förmlich vor sich
her, wie ein Stück Styropor. Ich war fast in der Mitte der Strasse und guckte
immer wieder panisch nach hinten, um mir einen Weg an den Strassenrand zu
bahnen, denn mein Adrenalin-Nachbrenner-Moment drohte innert Sekunden zu
verpuffen. Irgendwie schaffte ich es an die Seite zu gelangen und schon
zischten alle an mir vorbei. Auch Thomas Mullis. Lachend rief er mir zu: „Super
Midi, das waren bestimmt 300 Meter.“ Und weg war er. Und weg war Vik. Und weg waren
die beiden Kenianer. Und weg war alles, was auf dieser Welt laufen konnte.
Mein Puls schnellte hoch auf 170,
meine Arme wurden zu Blei und die Beine drohten unter meinen Torso wegzusacken.
Mein innerer Herz-Chaschper läutete Alarm und stellte sicherheitshalber schon
mal die Nummer der Ambulanz ein. Ich war erledigt bevor alles richtig begann. Doch
ich rannte irgendwie weiter. Selten hatte mein Körper einen heftigeren Schmerz
erlitten. Mutti, hol mich hier raus...! Von diesem Moment an wurde ich von
allen schnelleren Teilnehmern, die hinter mir starteten (also ALLE), durchs
Feld gereicht. Ich wurde von Leuten überholt mit X-Beinen, von Leuten mit
O-Beinen, von Hausfrauen, von jungen Girls und alten Männern. Einfach alles zog
an mir vorbei und es war mir schlicht unmöglich, meinen Puls unter 157 zu
bringen und das, obwohl ich schon fast stillstand. Das konnte nicht gut gehen.
Doch irgendwann bei der der
Sprintwertung (sehr lustig!) an der 5 Kilometermarke fand ich mich damit ab, den Rest des Rennens auf diesem Puls
zu laufen. Ich nutzte jede Verpflegungsstelle, um Wasser zu trinken, schaffte
es aber nur bei totalem Stillstand die Flüssigkeit in meinen bebenden Körper zu
transportieren. Und so schleppte ich mich von Trinkstelle zu Trinkstelle. Auf
halber Strecke hörte ich, wie die Spitze auf der anderen Seeseite ins Ziel
lief. Vik hatte nach rund 40 Minuten schon Feierabend und ich quälte mich,
bemüht zu lächeln, unter stetigen Anfeuerungsrufen der Fans am Strassenrand
über die letzten 7 Kilometer.
Bei Kilometer 12 drohte mein Körper
ein wenig vor Erschöpfung umzukommen, doch mein Stolz trieb mich im tiefroten
Bereich weiter Richtung Ziel. Auf den letzten hundert Metern liess ich mich von
meinen aufkeimenden Endorphinen noch zu einem Schlussspurt hinreissen, auf dem
ich noch ca. 10 Läufer hinter mir liess. Späte Rache. Ha! Thomas Mullis stand
da und gratulierte mir zum Finisher. Ich war sprachlos, sprich atemlos.
Irgendeine gute Seele reichte mir eine Banane, die ich mir wortlos
einverleibte. Mullis kam an und befahl mir viel zu trinken oder noch besser,
mit ihm und Viktor in den Ägerisee zu springen. Nachdem mir sogar der grosse
Vik mit Hochachtung gratulierte, sprangen wir in den See und lachten uns ob
meiner durchgeknallten Aktion an der Startlinie einen Schranz. Nie in meinem
Leben fühlte ich mich so quicklebendig und todmüde zugleich. Es lebe der Sport.
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